„Kirche soll den Mund aufmachen“

Nachricht 20. Juni 2022

Dr. Margot Käßmann und Ludger Abeln diskutieren beim 2. Belmer Kirchentag

Der Pflichtdienst für junge Menschen, Kinderarmut und die Situation von Familien, die Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg, die Behandlung von Geflüchteten und die Reform der Kirche – Dr. Margot Käßmann und Ludger Abeln haben keine wichtigen Themen ausgelassen bei der Podiumsdiskussion, die jetzt auf dem Platz neben dem abgesperrten Kreisverkehr am Belmer Tie stattgefunden hat. Anlass war der 2. Belmer Kirchentag der Evangelisch-lutherischen Christus-Kirchengemeinde Belm und der katholischen Pfarreiengemeinschaft Belm und Icker.

Bei 32 Grad im Schatten wurde der Kirchentag durch Pastor Arne Schipper von der Christus-Kirchengemeinde und seinen katholischen Kollegen Pastor Arnold Kuiter eröffnet. Margot Käßmann nahm es mit Humor: „Wir können nicht die ganze Zeit für gutes Wetter beten und dann sagen, soviel wollen wir dann doch nicht.“ Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und ehemalige Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers ist seit 2018 pensioniert. Das ermögliche ihr, ihre Zeit freier einzuteilen und „tolle Sachen zu machen, wie zum Beispiel zum Kirchentag nach Belm zu kommen“. Angesprochen von Ludger Abeln auf den von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorgeschlagenen Pflichtdienst für alle jungen Menschen, äußerte sich Margot Käßmann zurückhaltend: „Ich finde es immer schwierig, wenn alte Leute den jungen sagen, was sie zu tun haben.“ Anstatt einen 18-Jährigen in eine Pflegeeinrichtung zu schicken, der dazu vielleicht gar keine Lust habe, sei es besser, auf Freiwilligkeit mit entsprechender Motivation zu setzen. „Was wir wirklich brauchen, sind gut ausgebildete und bezahlte Pflegekräfte.“

Es gibt Menschen, die nicht wissen, ob sie essen oder die Heizung anstellen sollen.

Ludger Abeln

Essen oder heizen

Zweites, von Ludger Abeln angesprochene Thema war die zunehmende Armut in Deutschland. „Es gibt Menschen, die nicht wissen, ob sie essen oder die Heizung anstellen sollen“, sagte der aus Funk und Fernsehen bekannte Moderator, der jetzt Vorstandsvorsitzender der Caritas Gemeinschaftsstiftung Osnabrück ist. Der Tankrabatt zum Beispiel käme bei vielen ärmeren Menschen gar nicht an, weil sie sich kein Auto leisten könnten, so Käßmann. „Ich kenne alleinerziehende Mütter mit zwei Kindern, die am 20. nicht mehr genug auf dem Konto haben. Oder alte Menschen, die sich schämen, einsam zu sein.“ Hier müsse Kirche noch mehr einstehen für diese Menschen, die nicht die Kraft hätten, für sich selber einzustehen. Kirche hätte den Auftrag, darauf aufmerksam zu machen, dass immer mehr Menschen am Rande der Existenz lebten. Gerade Kinder müssten noch viel früher gefördert werden. Der Satz, dass mit der Schule der Ernst des Lebens anfange, stimme nicht. „Das geht schon viel früher los.“ Familien hätten in Deutschland keine Lobby. Das hätte sich gerade in der Coronazeit gezeigt. „Wer saß da am Tisch, um Entscheidungen zu treffen: Politiker und Virologen, aber keine Familienwissenschaftler“, bedauerte Käßmann. Könne denn Kirche diese Lobby übernehmen, fragte Abeln. „Natürlich. Kirche soll den Mund aufmachen. Dann heißt es zwar wieder, Kirche sei politisch. Aber das ist sie auch, wenn sie schweigt.“ Der Druck auf Familien nehme ständig zu, sagte Käßmann, die sieben Enkelkinder hat. Es müsse mehr getan werden, damit die soziale Schere nicht noch weiter aufginge. Dazu beitragen könne auch die ältere Generation, die sich ehrenamtlich engagieren möchte. „Ich kenne Großelternbörsen, über die ältere Menschen, die selbst keine Enkel haben, zwei Stunden die Woche Kinder aus benachteiligten Familien fördern“, so Käßmann.

Kirche soll den Mund aufmachen. Dann heißt es zwar wieder, Kirche sei politisch. Aber das ist sie auch, wenn sie schweigt.

Dr. Margot Käßmann

„Große“ Themen

Käßmann ist auch bekannt als Autorin zahlreicher Bücher. „In Ihren Büchern schreiben Sie oft über ‚große‘ Themen; bei dem aktuellen, an dem Sie gerade arbeiten, geht es um Vergebung“, sagte Ludger Abeln. „Nehmen Sie den russischen Soldaten, der einen Zivilisten erschossen hat und um Vergebung gebeten hat“, nannte Käßmann ein Beispiel. „Ich schreibe über Themen, die uns alle umtreiben und bringe diese mit dem christlichen Glauben zusammen“, erläuterte sie ihr Anliegen beim Schreiben. Auch die Bibel sei für sie hochaktuell. „Viele Leute meinen, das habe mit ihnen nichts zu tun. Doch in der Bibel geht es um wichtige Menschheitserfahrungen und grundlegende Fragen, wie wir miteinander umgehen.“ Die Bibel gebe zum Beispiel auch Antwort, wenn es um die Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine gehe. „Das Neue Testament enthält keine Legitimation dafür, Waffen zu liefern“, sagte Käßmann. Deutschland hätte zudem eine historische Verantwortung, und mehr Waffen würden keinen Frieden bringen. Besser sei es, alle Energie in eine diplomatische Lösung zu stecken. Angst mache Käßmann, dass sich die Spirale der Aufrüstung jetzt immer weiterdrehe. Der Ukrainekrieg brachte Käßmann und Abeln zum Thema der unterschiedlichen Behandlung von Geflüchteten. Momentan herrsche eine Zweiklassengesellschaft, auf der einen Seite die Ukrainer und auf der anderen Seite Menschen aus Afrika, Syrien oder Afghanistan, meinte Abeln. „Das ist eher erste und vierte Klasse“, zeigte sich Käßmann überzeugt. „Alle sollten so behandelt werden wie gegenwärtig die Geflüchteten aus der Ukraine. Die Kirchen müssten hier noch viel lauter sagen: Das geht so nicht.“

Das ist eher erste und vierte Klasse.

Dr. Margot Käßmann zur Zweiklassengesellschaft bei der Behandlung von Geflüchteten

Geeint durch die Taufe

Als Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche behandelten Käßmann und Abeln auch das Thema Ökumene. Für Käßmann umfasst Ökumene weit mehr als die beiden großen christlichen Konfessionen: „Was wissen wir zum Beispiel über afrikanische Theologie?“ Es gäbe zwei Milliarden Christen auf der Welt, in sehr verschiedenen Kontexten, die aber geeint seien durch die Taufe. Gesprochen wurde auch über die Position der Frau in der katholischen Kirche. Theologisch gäbe es eigentlich keine Vorbehalte mehr gegen Weiheämter für Frauen, so die evangelische Theologin. „Aber es hat ja auch bei uns gedauert, es ist ja nicht so, dass wir seit Jahrhunderten Frauen zu Pastorinnen ordinieren.“ Abeln pflichtete ihr bei und wies auf den Synodalen Weg zur Reform der katholischen Kirche hin: „Wenn wir nicht weitergehen, was bleibt dann in zehn oder 15 Jahren noch über?“ Dem Trend, dass immer mehr Menschen sich von der Kirche abwendeten, könne man nur entgegenwirken, indem man genau schaue, was die Menschen vor Ort bräuchten, und die Sehnsucht nach Spiritualität und Gemeinschaft wecke. Eine Patentlösung habe aber auch Käßmann nicht. „Wir müssen gemeinsam mit den Menschen nach Antworten suchen.“